Erste Bemerkungen zu neuen Nichtannahmebeschlüssen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und zu seiner Tätigkeit

 

a.      Ablehnung der Ostdynamisierung des gemäß Einigungsvertrag garantierten Zahlbetrages, Nichtannahmebeschluss vom 15.09.06

b.      Nichtannahmebeschluss vom 26.07.06 zur einer Verfassungsbeschwerde, die unmittelbar gegen das so genannte 1. AAÜG-ÄndG eingelegt wurde

c.      Das Verfassungsgericht und die Erforschung der Wahrheit

Das BVerfG veröffentlichte am 05.10.06 einen am 15.09.06 von einer dreiköpfigen Richterkammer gefassten Nichtannahmebeschluss zu einer seit fast einem Jahrzehnt anhängigen Verfassungsbeschwerde (Az. 1 BvR 799/98; der Beschluss und die Pressemitteilung sind im Internet abrufbar: www.bundesverfassungsgericht.de).

a.

Die Witwe eines Professors hatte gefordert, den ihr gemäß Einigungsvertrag als Witwenrente zustehenden Zahlbetrag in seinem realen Wert weiter zu gewähren. Das BVerfG hatte im Leiturteil vom 28.4.1999 ausdrücklich bestätigt, dass es sich um die „Garantie des Realwertes“ handelt (BVerfGE 100, 1 [47]). Das setzt die so genannte Ostdynamisierung des Zahlbetrages voraus. Das BSG hatte 1999 jedoch, dem BVerfG den Gehorsam verweigernd (Jan Thiessen, „Zahlbetragsgarantie und Rentendynamisierung“, Neue Justiz Heft 9 2000 S. 456 ff.) den Betroffenen nur den weitaus geringeren Dynamisierungssatz für die Renten der Bürger der alten Länder zugebilligt. Das Verfahren über die Ansprüche aus der untadeligen Lebensleistung ihres verstorbenen Gatten führte die Witwe bis zu ihrem Tode weiter. Seit einigen Jahren warteten nun die 3 Kinder darauf, dass das BVerfG ausgehend von dem genannten Leiturteil etwas mehr Gerechtigkeit durchsetzt und die Ehre ihres Vaters wieder herstellt: Durch die Anwendung der „West“-Dynamisierung schrumpfte der Wert der aus seiner untadeligen Lebensleistung resultierenden im Ost-West-Vergleich ohnehin diskriminierend geringen Witwenrente immer weiter.

 

Die Richterkammer verließ nunmehr vollends die Positionen, die das BVerfG in seinem Leiturteil 1999 vorgegeben hat. Sie nahm das Anliegen der Verfassungsbeschwerde, die nach ihrer Meinung „keine Aussicht auf Erfolg“ habe, nicht zur Entscheidung an. Der Beschluss hat unmittelbare Auswirkungen für zehntausende Ostrentner bzw. die Hinterbliebenen. Sie müssen nunmehr, wenn sie gegen das Ergebnis, das nach unserer Überzeugung auch die Europäische Menschenrechtskonvention schwerwiegend verletzt, vorgehen wollen, Menschenrechtsbeschwerden bei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einlegen. Wir werden zu diesem Beschluss und zu weiteren Aktivitäten des BVerfG demnächst in einer Mandanteninformation Stellung nehmen.

b.

Das BVerfG hat bereits am 25.07.06 mit einem Kammerbeschluss eine – nicht von uns eingelegte – Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (Az.: 1 BvR 1557/06). Die Verfassungsbeschwerde war unmittelbar gegen das so genannte 1. AAÜG-ÄndG gerichtet.

 

Wie bei vergleichbaren Nichtannahmebeschlüssen 1992, als die Auseinandersetzung über das Rentenüberleitungsgesetz mit unmittelbar gegen das RÜG eingelegten Verfassungsbeschwerden begann, hat das Gericht mit einer u. E. der Verantwortung eines Bundesverfassungsgerichts wiederum nicht entsprechenden formalen Vorgehensweise die Chance ausgelassen, das auf die Aufrechterhaltung und in bestimmten Bereichen sogar auf die Ausweitung des Rentenstrafrechts gerichtete so genannte Erste Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz inhaltlich genau zu prüfen, seine – für uns offensichtliche – Verfassungs- und Menschenrechtswidrigkeit festzustellen und endlich auf diesem Gebiet rechtsstaatliche Verhältnisse herzustellen.

 

Auch auf diese Entscheidung werden wir demnächst in einer Mandanteninformation eingehen.

c.

Das Bundesverfassungsgericht erfüllt die ihm obliegende Pflicht zur Ermittlung der objektiven Wahrheit ausweislich der besonders in letzter Zeit bekannt gewordenen Entscheidungen zu Problemen aus dem Einigungsprozess (u. a. auch in dem „Auffüllbetragsbeschluss“, vgl. dazu in den Mandanteninformationen) sowie der Verlautbarungen seiner Mitarbeiter (vgl. auch die Erläuterungen zu Frage 4 unter Aktuelles) nicht. Zu den Vorschriften des RÜG, die Millionen Bürger, die aus der DDR gekommen sind, benachteiligen, und zu den zahlreichen dazu eingereichten Verfassungsbeschwerden hat das BVerfG nach unseren Kenntnissen keine ausreichenden Ermittlungen zum Sachverhalt und zur Rechtslage durchgeführt. Insbesondere hat es, abgesehen von der mündlichen Verhandlung im Sommer 1998, nach der dann die Urteile vom 28.4.1999 (BVerfGE 100, 1-194) verkündet wurden, zu keiner der vielfältigen Problemkomplexe auch nur eine weitere mündliche Verhandlung durchgeführt. Schon die Probleme der Auffüllbeträge, der Renten- und Übergangszuschläge betreffen mehrere Millionen ehemalige DDR-Bürger, die sich am unteren Ende der sozialen Skala befinden. Sie erhalten sehr geringe Alterseinkommen, die ausschließlich aus einer vermindert und durch die missglückte Überleitung ungünstig berechnete und schließlich noch durch den aktuellen Rentenwert Ost belasteten Versichertenrente bestehen. Die Art der „Überführung“, die Missachtung der in der DDR rechtmäßig erworbenen Ansprüche u. a. m. sowie die für die Betroffenen und die „Fachleute“ unüberschaubaren Sach- und Rechtsfragen bedurften und bedürfen noch immer eine genaueren Überprüfung. Trotzdem wurde bislang stets ohne eine weitere mündliche Verhandlung des BVerfG zur Alterssicherung Ost entschieden – während andererseits zu zahlreichen, nicht so tief in die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Betroffenen eingreifende Fragen vom BVerfG in mündlichen Verhandlungen geprüft werden: So kommt der Eindruck auf, dass das Gericht beispielsweise Verfassungsbeschwerden von Bürgern, die als Bundestagsabgeordnete unermesslichen Nebenverdienste erreichen und diese vor ihren Wählern geheimhalten wollen, vorteilhafter behandelt werden (mit diesen Fragen beschäftigt sich das BVerfG gerade!) als die um wesentliche Teile ihrer mit der Lebensleistung rechtmäßig erworbenen verhältnismäßig geringen Rentenansprüche betrogenen der Bundesrepublik aus der DDR beigetretenen Bürger. Auch zu solchen Fragen werden wir in nächster Zeit noch gesondert Stellung nehmen.

 

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