Frage 10:

 Wird das Gesetz, das die „Rente mit 67“ einführen soll, auch
Auswirkungen auf Bestandsrentner haben?


Die als „RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz“ bezeichnete Regelung wird nach unserer Einschätzung weder mehr Gerechtigkeit zwischen den Generationen noch für die Bürger bringen, die im Rentenalter sind. Sie kann auch keine der auf dem Gebiet der Alterssicherung in Deutschland vorliegenden wesentlichen Fragen lösen, weil im Zentrum der Maßnahmen die Notwendigkeit stehen muss, die Massenarbeitslosigkeit zu überwinden.

Der Gesetzentwurf, der durch eine politisch-populistische Propaganda zur Irreführung der Bürger genutzt wird, liegt im Deutschen Bundestag als „Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz)“ vor (Drucksache des Deutschen Bundestages Nr. 16/3794 vom 12.12.2006, nachzulesen u. a. im Internet unter www.bundestag.de). In diesem Zusammenhang möchten wir auf Folgendes hinweisen:


1. Für spätere Zugangsrentner
wird das Gesetz durch die Einführung der Rente mit 67 die Versichertenrenten drastisch kürzen, nachdem der Wert der Renten u. a. bereits durch den Jahre langen Verzicht auf Rentendynamisierungen und auf die Rentenangleichungen Ost an West sowie mit der Schaffung der Riester-Rente erheblich vermindert worden ist: Jedem Versichertenrentner werden nach Wirksamwerden des Gesetzes Rentenleistungen für zwei Jahre genommen. Im Gegenzug steigt die Gefahr, dass sich die Zeit der Arbeitslosigkeit entsprechend verlängert.


2. Für Zugangsrentner, die aus der DDR stammen
, treten besonders nachteilige Wirkungen ein. Im Beitrittsgebiet ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie in den alten Ländern, und den beigetretenen Bürgern werden aufgrund des RÜG ohnehin nur noch Alterseinkünfte aus der gesetzlichen Rentenversicherung (SGB VI) gewährt, weil ihre in der DDR rechtmäßig erworbenen Ansprüche bzw. Anwartschaften auf eine Vollversorgung (AVI, FZR usw.) bzw. auf eine günstigere Versichertenrentenberechnung (z. B. für Beschäftigte des Gesundheits- und Sozialwesens, für Eisenbahner und Postler, für Frauen mit mehreren Kindern) liquidiert wurden und weil selbst den jüngeren von ihnen ein ordnungsgemäßer Zugang zu den verschiedenen „Bausteinen der Alterssicherung“ (u. a. Zusatzversorgungen, Betriebsrenten) nicht gewährt wurde bzw. wird. Vergleichbare Benachteiligungen und Eingriffe in die weiteren „Bausteine der Alterssicherung“, die zur Ergänzung der Versichertenrente Bürgern aus den alten Ländern zustehen, gab es seit 1945 noch nie.


3. Für Bestandsrentner vorgesehene Veränderungen
blieben bisher in der Öffentlichkeit nahezu ohne Erläuterung und ohne Resonanz. Dabei werden Vorschläge des umfänglichen und unüberschaubaren Gesetzentwurfs auch unmittelbare Auswirkungen für sie haben. So ist vorgesehen, nach Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes, also auch eines Rentenbescheides, die Leistungen nur noch für die Zukunft neu zu berechnen, soweit der – rechtswidrige! - Bescheid bestandskräftig geworden ist.

3.1. Das könnte z. B. viele Bestandsrentnerinnen mit Ansprüchen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen, mit Auffüllbeträgen u. a. m. betreffen, wenn ausgehend von Menschenrechtsbeschwerden die Zahlbetragsgarantie des Einigungsvertrages auch für Rentner mit SV- und FZR-Ansprüchen wieder hergestellt und die „Abschmelzung“ der Auffüllbeträge als menschenrechtswidrig verworfen werden sollte. Solchen Betroffenen würden aufgrund des neu in § 100 SGB VI einzufügenden Absatzes 4 Nachzahlungen nur dann noch zustehen, wenn sie die Bescheide angefochten haben und wenn über ihre Anträge bislang keine endgültige (bzw. von den Betroffenen hingenommene!) Entscheidung getroffen worden ist: Ihre Bescheide dürfen also nicht bestandskräftig geworden sein (vgl. in der genannten Drucksache auf Seite 8 Ziffer 30 sowie auf Seiten 30 Ziff. 3 Buchstabe b und 37 „Zu Nummer 30 [§ 100]).

Mit dieser Vorschrift soll zukünftig die Anwendung von § 44 Abs. 4 SGB X ausgeschlossen werden. Der ermöglicht bislang in vergleichbaren Fällen eine Nachberechnung und Nachzahlung für den Zeitraum von 4 Jahren, auch wenn bereits ein bestandskräftiger Bescheid vorlag. Künftig sollen solche Betroffenen keine Nachzahlungen mehr erhalten. Das gilt auch, wenn sie z. B. aufgrund der Vorhaltungen der jeweiligen Rentenversicherung, es lägen ja schon Verfassungsbeschwerden oder Vorlagebeschlüsse vor, darauf verzichtet haben, selbst Widerspruch einzulegen oder nach dessen Ablehnung den für sie schwierigen und aufwendigen Weg durch die Instanzen durchzustehen. Ein solcher Verzicht auf die Weiterführung des eigenen Verfahrens bewirkt also, dass der Anspruch auf Nachzahlungen künftig verloren geht, auch wenn die Bescheide „auf einer Norm beruhen, die für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist“ (a.a.O. S. 30).

3.2. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird die Auffassung vertreten, dass mit der Beseitigung der Wirkungen des § 44 SGB X „das Interesse der Solidargemeinschaft der Versicherten an Rechtssicherheit und der Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung gegenüber dem Interesse des einzelnen an einer möglichst langen Nachzahlungsfrist“ gestärkt wird.

Wir sehen eine solche Regelung als unverständlich und verfassungswidrig an. Die Umsetzung der nun als verfassungswidrig erkannten Vorschriften bewirkte viele Jahre lang eine drastische Minderung des Einkommens und beeinträchtigte das Lebensniveau der betroffenen Bürger und ihrer Familien. Nun sollen die unter Verletzung von Recht und Gesetz den Betroffenen vorenthaltenen („eingesparten“!) Beträge bei jenen Behörden verbleiben, die in der Art „williger Vollstrecker“ vorgegangen sind und die eine sachgerechte Aufklärung und Unterrichtung der Betroffenen durch fehlerhafte Auskünfte behindert haben.

Es ist nicht zu erkennen, wie die nachträgliche Legitimierung einer solchen Vorgehensweise dem Gemeinwohl dienen könnte: Es gehört vielmehr zu den Pflichten eines Rechtsstaates und zu den unverzichtbaren Säulen des Gemeinwohls, dass die Rechte / Ansprüche jedes einzelnen Bürgers geachtet und dass rechtswidrige Benachteiligungen aufgedeckt, festgestellt und wieder gut gemacht werden. Auf Kosten einzelner lange Zeit benachteiligter Mitglieder der Solidargemeinschaft der Versicherten und durch ein aufgezwungenes Sonderopfer dürfen die Kassen der Rentenversicherung nicht saniert werden.

3.3. Die vorgesehene Bestimmung ist daher dazu geeignet, das Vertrauen in den Rechtsstaat, das ohnehin im Beitrittsgebiet z. B. durch verfassungswidrige Eingriffe in rechtmäßig in der DDR erworbene Ansprüche unzähliger Bürger auf eine angemessene Alterssicherung schon dauerhaft geschädigt worden ist (vgl. Grundsatzurteile des BVerfG vom 28.4.1999, BVerfGE 100, 1-194), noch weiter zu unterminieren sowie die Enttäuschung der Betroffenen über die Missachtung ihrer Lebensleistung, des persönlichen Eigentums, des Bestands- und Vertrauensschutzes zu vertiefen.

3.4. Derzeit versucht die Deutsche Rentenversicherung Verfahren, die wegen der Missachtung der Zahlbetragsgarantie des Einigungsvertrages sowie der Schaffung und Abschmelzung der Auffüllbeträge (entsprechend: Der Renten- und Übergangszuschläge) anhängig sind und ruhen, weiterzuführen und die Betroffenen zur Rücknahme ihrer Anträge zu veranlassen. Das kann als vorbeugende Maßnahme aufgefasst werden für den Fall, dass die von uns eingereichten in Straßburg anhängigen Menschenrechtsbeschwerden (u. a. Beschwerde Nr. 16619/03, 39081/03, 19341/05, 33316/05 und 10014/06) erfolgreich sind: Wer die Bescheide bestandskräftig werden lässt, soll Opfer der oben beschriebenen neuen Regelung werden – und die Nachzahlungen könnten dann „gespart“ werden.

3.5. Den Betroffenen ist zu empfehlen, nachdrücklich unter Hinweis auf die zu erwartenden Entscheidungen des EGMR zu verlangen, dass ihre Verfahren in dem jeweiligen Stadium, in dem sie sich befinden, ruhen gelassen oder vom Gericht ausgesetzt werden. Dabei sollte ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil vom 22.01.07 beispielhaft sowohl die zu lange Verfahrensdauer als auch die Unfairness der Verfahrensführung gerügt worden ist und zur Festlegung einer Wiedergutmachungsleistung geführt hat (vgl. in www.ostrentner.de die unter „Aktuelles“ veröffentlichte Presseinformation vom 20.02.07 über einen bemerkenswerten Teilerfolg der Menschenrechtsbeschwerde einer ehemaligen Balletttänzerin aus der DDR (Musterverfahren KIRSTEN gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 19124/02).

 

Auf weitere Maßnahmen, die den Betroffenen zur Abwehr unfairer Maßnahmen der Deutschen Rentenversicherung möglich sind, werden wir in den nächsten Wochen hinweisen.

 



Berlin 28.02.07                                                                               Rechtsanwälte Dres. Christoph

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